Rezension von Noks Nauta über ‘Extrem begabt: Die Persönlichkeitsstruktur von Höchstbegabten und Genies’ (Andrea Brackmann, Klett-Cotta, 2020).
Titel: Extrem begabt. Die Persönlichkeitsstruktur von Höchstbegabten und Genies.
Autorin: Andrea Brackmann
ISBN: 978-3-608-89258-1
Veröffentlichung: Klett-Cotta
https://www.klett-cotta.de/buch/Psychotherapie_allgemein/Extrem_begabt/112206
Beschreibung
In diesem Buch geht es um eine Untergruppe von begabten Menschen, Menschen mit einem IQ von 145 oder höher. Die Autorin weist darauf hin, wie schwierig die Terminologie für dieses Intelligenzspektrum ist – auch im internationalen Raum. Andrea Brackmann wählt im Deutschen den Begriff “extrem begabt” bzw. “höchstbegabt” und auch außerordentlich hochbegabt‘.
Das Buch besteht aus zehn Kapiteln. Kapitel I ist eine Einführung in das Konzept der Hochbegabung und eine kurze Beschreibung der Merkmale höchstbegabter Menschen, wie sie in der psychologischen Praxis der Autorin beobachtet werden. Dabei zitiert Brackmann mehrere andere Autoren. In Kapitel II beschreibt sie verschiedene Klassifikationen von Hochbegabten sowie Formen der Begabung. Kapitel III befasst sich mit der genialen Persönlichkeit. Hier verwendet die Autorin den Begriff “Genie” und Merkmale von Genies aus der Literaturgeschichte.
Kapitel IV ist das umfangreichste Kapitel und deckt fast die Hälfte des gesamten Buches ab. Brackmann unterteilt das Kapitel in elf Merkmalspaare, die sich auf den ersten Blick widersprechen, wie beispielsweise die Kombination von Sensibilität und Risikobereitschaft oder Alleinsein und Geselligkeit. Anschließend beschreibt sie Episoden aus dem Leben vieler verschiedener bekannter Genies (wie Martin Luther King, Marie Curie und Steve Jobs) und gibt kurze Beschreibungen, die in Wirklichkeit Illustrationen jener elf Merkmalskombinationen sind, in die sie das Kapitel unterteilt hat.
Kapitel V handelt von Genies und Geisteskrankheiten; Kapitel VI von Genies und körperlicher Gesundheit. Kapitel VII spricht vom produktiven Unbehagen, das immer nach Verbesserung strebt. In Kapitel VIII geht es um Resilienz. Kapitel IX, das den Charakter eines Epilogs hat, handelt von Genies im Alter und Kapitel X (anderthalb Seiten) von Genies in der Gesellschaft.
Diskussion
Soweit mir bekannt ist, ist dieses Werk das erste Buch über höchstbegabte Erwachsene mit einem IQ von 145 oder höher. Zwei Autoren haben bisher Bücher über höchstbegabte Kinder veröffentlicht: Hollingworth und Gross. Daher ist es sehr erfreulich, dass nun eine Buchpublikation über höchstbegabte Erwachsene erschienen ist. Dies verstehe ich als Anerkennung für eine Gruppe von Menschen, die sich als Untergruppe von hochbegabten Menschen in einer Reihe von Aspekten von hochbegabten Menschen unterscheidet. Dies ist ein Thema, an dem ich seit mehreren Jahren arbeite, beispielsweise durch die Organisation jeweils gruppenspezifischer Treffen von der IHBV. Für mich persönlich bleibt dies eine nie wirklich gänzlich zu erfüllende Aufgabe.
Wie in anderen Sprachen, haben wir im Niederländischen mit der Terminologie zu kämpfen. Es gibt international keinen Konsens über die Bezeichnungen des Hochbegabungs-Spektrums. Im Moment bezeichnet man im Niederländischen die Gruppe vom Menschen mit einem IQ ab 145 als ‚zeer hoogbegaafd‘ (deutsch: höchstbegabt), einem IQ ab 160 als ‚extreem begaafd‘ (deutsch: extrembegabt), und für Menschen mit einem IQ ab 175 verwenden wir nur noch den englischen Begriff ‚profoundly gifted‘.
Statistisch gesehen handelt es sich bei der Gruppe von Menschen von einem IQ von 145 und größer um eine von 1000 Personen und bei der Gruppe von Personen ab einem IQ von 130 und mehr um eine von 16 bis 20 begabten Personen.
Gute wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Gruppe liegen noch nicht vor, nicht einmal in Bezug auf Kinder. Deshalb halte ich es für völlig gerechtfertigt, mit dem Beobachten und Beschreiben von Merkmalen zu beginnen und erkenne daher Brackmanns Beobachtungen aus ihrer Praxis an, die sie deutlich beschrieben hat. Ich selbst bin seit Jahren Mitglied der Triple Nine Society, und natürlich kann ich diese Beobachtungen aus diesem Zusammenhang bestätigen. Aus meiner Sicht enthalten die Kapitel I.4 und I.5 Brackmanns wichtigste Beobachtungen.
Viele Beiträge zur Diskussion dieser spezifischen Zielgruppe finden sich in Kapitel II, die nicht viel zum Wissen über Höchstbegabung beitragen, wenn man bereits viel überdieses Themengebiet weiß. Die von Brackmann vorgestellten Theorien und Klassifikationen über Hochbegabung, wie etwa die von Gardner, sind manchmal auch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen. Auch in Kapitel III ist die Autorin in einer Reihe von Aussagen sehr entschieden. Was sie schreibt, ist erkennbar, aber meiner Meinung nach gibt es keine Grundlage für die Gewissheit, mit der sie die Persönlichkeitsmerkmale von Genies beschreibt. Und sicherlich ist der Begriff Genie umstritten.
In Kapitel IV frage ich mich zunächst einmal, wie Brackmann zu den 11 Merkmalsduos kam. An sich sind sie interessant und wiedererkennbar, aber die Autorin beschreibt nicht, wie sie dazu kam, sie zu benutzen. Hier wäre eine Begründung wünschenswert.
Das erste Merkmalspaar ist “Sensibilität und Risikobereitschaft”. Darin stellt die Autorin Beispiele aus dem Leben von Vincent van Gogh und Gandhi vor. Unter anderem Einstein, Picasso und Sartre gehören zu dem Duo der Eigenschaften “Alleinsein und Geselligkeit”. Alle Geschichten sind faszinierend und passen zu den (scheinbaren) Widersprüchen. Es ist schön, dass die Autorin diese Beschreibungen macht, so dass sich viele sehr begabte Menschen selbst in ihnen erkennen können. Schließlich kann man nicht in eine Schublade gesteckt werden; Menschen haben viele Facetten, sogar Facetten, die einander zu widersprechen scheinen.
Dennoch habe ich Vorbehalte. Brackmanns Diskussion über das Merkmalspaar Krankheit und Kreativität erinnert mich zum Beispiel an Annie Schmidts Gedicht: “Erst aus dem Leiden wird die Kunst geboren” (Ein niederländisches ironisches Gedicht). Sie sucht überall nach Beispielen aus Biographien, die zu ihrer Theorie passen, aber es wäre auch interessant, Beispiele zu finden, die überhaupt nicht dazu passen. Der Künstler, der überhaupt nicht krank war oder keine schwierige Kindheit hatte. Und auch ihre Hypothese, Charles Darwin und Florence Nightingale hätten das chronische Erschöpfungssyndrom (CFS) gehabt, sind für mich als Medizinerin weit hergeholt.
Was mich auch beunruhigt, ist, dass die Genies, die die Autorin als Beispiel nimmt, in der Regel keine durchschnittlich Hochbegabten sind. Alle genannten Persönlichkeiten sind für etwas bekannt geworden: Wissenschaft, Literatur, Malerei, Musik und so weiter. Natürlich sind es interessante Geschichten, aber ich spreche öfter mit (möglicherweise) höchstbegabten Menschen, die nicht solche sichtbaren Merkmale zeigen, die sich selbst nicht als Genie bezeichnen oder von anderen als solches gesehen werden, und solche, die mit dem, was sie aus ihrem sehr hohen IQ gemacht haben, eher unzufrieden sind. Wie erkennbar ist dieses Kapitel also für sie? Meine Frage ist auch, inwieweit alle Genies, die Brackmann vorstellt, tatsächlich höchstbegabt sind. Dies könnte sehr wohl zutreffen, aber in Wirklichkeit ist es eine umgekehrte Argumentation, die hier im Buch angewandt wird.
Im Kapitel über Genies und Geisteskrankheiten ist die Autorin sehr nuanciert, und das ist korrekt. Die Idee des “so verrückten Genies” kann nicht durch wissenschaftliche Forschung untermauert werden. Die Forschungsdiskussion von Karpinski et al. ab 2018 ist auch hier nicht relevant, denn Karpinski untersuchte Menschen mit einem IQ ab 130. Wir wissen also nicht, welche Befragten höchstbegabt waren, und außerdem ist diese Forschung methodisch eher schwach. Brackmann ist mir hier nicht kritisch genug (genau wie in Kapitel II), und es scheint, als sei sie froh, doch noch etwas darüber schreiben zu können. Das Bild des umgestürzten Bücherregals begegnet mir übrigens häufiger bei Autoren, die über Hochbegabung schreiben. Brackmann spezifizierte nicht die Fehldiagnosen bei höchstbegabten Menschen. (Das ist logisch, denn auch dazu kenne ich keine Forschung.) Genau wie Webb verwendet sie den Begriff “existenzielle Depression”, während er im DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; englisch für „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“) seit Jahren nicht mehr vorkommt. Ich glaube, es geht um eine Depression, die bei hochbegabten Menschen oft mit einem schweren existentiellen Inhalt zu tun hat. Diese Information reicht für Psychiater aus und braucht keine und braucht keine gesonderte Bezeichnung.
Auf etwa 35 Seiten geht es um Hochbegabung (und nicht um Höchstbegabung) und Autismus. Mit Blick auf den Themenschwerpunkt ‚Höchstbegabung‘ erscheinen mir 35 Seiten für das Thema Hochbegabung zu viel. Bleibt zu hoffen, dass andere Leser diesen Seiten mehr abgewinnen können. Eine Aussage, mit der ich aufgrund meiner Erfahrungen als Hypothese übereinstimme: Nach Brackmanns Ansicht verbergen sich viele Formen von Autismus bei höchstbegabten Menschen.
Auch in Kapitel VI stellt Brackmann viele Hypothesen über Genies mit einer kranken Kindheit auf und nimmt viel Bezug zu Karpinski et al. Hier sehe ich methodische Schwierigkeiten, zumal die Autorin nicht von höchstbegabten Menschen spricht, sondern von einer Auswahl von hochbegabten Menschen (Mensanern mit einer IQ +130), nämlich von amerikanischen Männern.
Das Kapitel über hochbegabte ältere Menschen enthält eine begrenzte Anzahl von Daten über hochbegabte Menschen und das Altern, nicht über höchstbegabte Menschen im Alter. Die Autorin hat Recht, wenn sie sagt, dass auch hierzu bislang keine Untersuchungen durchgeführt worden sind. Dies ist auch deshalb schwierig, weil viele ältere Menschen überhaupt nicht über ihre Hoch- oder Höchstbegabung Bescheid wissen.
Brackmanns letztes Kapitel darüber, was hochbegabte Menschen für die Gesellschaft tun können, ist nach Angaben des Verlegers auch sehr gut auf alle Hochbegabten anwendbar. Es endet mit der Hoffnung, dass dieses Buch dazu beitragen wird, hochbegabten Menschen mehr Verständnis und Anerkennung zu bieten, damit sie mehr Selbstvertrauen gewinnen und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten können.
Ich bin besonders neugierig, ob begabte Menschen mit einem IQ-Wert zwischen 130 und 145 dieses Buch lesen werden. Oder wird es sie von vornherein abschrecken? Es ist auch möglich, dass sich einige begabte Menschen selbst unter begabten Menschen nicht zu Hause fühlen. Für sie kann dieses Buch ein Augenöffner sein.
Im letzten Kapitel erwähnt Brackmann auch ihre persönliche Motivation, in diese Zielgruppe einzutauchen und dieses Buch zu schreiben, nämlich eine philosophisch orientierte Neugierde, das Wesen der Höchstbegabten noch besser zu verstehen und zu erforschen, welche Vision die klügsten Menschen in der Geschichte haben und ihr eine Form zu geben, wie sie die Welt sehen und welche Verbesserungen sie erreichen wollen. Brackmann glaubt, dass die Genies der letzten Jahrhunderte uns viel darüber sagen und dass sie uns als Beispiel dienen können. Ich persönlich finde Letzteres im Buch nicht so stark reflektiert.
Für wen wird dieses Buch empfohlen?
Abgesehen von den obigen Bemerkungen halte ich es für sehr wichtig, dass es dieses Buch gibt. Die Autorin, Psychologin und Beziehungstherapeutin arbeitete 15 Jahre lang mit hochbegabten Kindern und Erwachsenen. Nach ihren eigenen Worten schrieb sie das Buch in erster Linie für Psychotherapeuten und Psychologen, die mit hochbegabten Menschen zu tun haben, sowie für Pädagogen und Studierende in diesen Disziplinen. Danach nannte sie die Hochbegabten und ihre Angehörigen als Zielgruppe.
Ich selbst würde dieses Buch für beide Gruppen empfehlen und möchte klarstellen, dass es in dem Buch hauptsächlich um höchstbegabte Menschen geht und viel weniger um Hochbegabte im Allgemeinen. Meiner Meinung nach besteht die Botschaft gerade darin, zu zeigen, wo sich die Höchstbegabten von den Hochbegabten im Allgemeinen unterscheiden. Hoffentlich wird dieses Buch dazu beitragen, zu erkennen, dass es auch Unterschiede in der Intelligenz von hochbegabten Menschen gibt. Genau wie für die Besucher unserer Informationsveranstaltungen über Höchstbegabte (Diese Veranstaltungen wurden von IHBV in 2019 und 2020 organisiert) kann dieses Buch für eine Reihe von Hochbegabten sehr hilfreich sein.
Es ist traurig zu wissen, dass die Autorin schwer erkrankt ist. Umso schöner ist es, dass sie dieses Buch doch noch fertigstellen konnte. Hoffentlich wird sie auch außerhalb des deutschen Sprachraums bekannt werden und andere zum Studium dieser Gruppe anregen.
Noks Nauta, nicht praktizierende Ärztin, Psychologin, Autorin von Büchern über Hochbegabung, ehrenamtliches Vorstandsmitglied und wissenschaftliche Mitarbeiterin des IHBV.
Übersetzt und bearbeitet von Alma Drekovic, Sprachwissenschaftlerin, Karrierecoach, Coach für Hochbegabte und Autorin. www.alma-coaching.com